Phänomenologie - Ankommen in der Fremde



 
 
Der autobiographische Roman von Eva Hoffman erzählt von den persönlichen Erlebnissen als
Immigrantin, die ihre polnische Identität im fremden Kanada verliert, um sie dann in einer neuen Sprache und Kultur neu zu definieren und wiederzufinden. Eva Hoffman verbrachte ihre frühe Kindheit in Krakau, das sie in den 50er Jahren mit ihrem Eltern und ihrer Schwester verläßt , um nach Kanada zu immigrieren. Eva ist alt genug, um das tiefe Gefühl der Entwurzelung und der Fremdheit in all ihren Formen zu spüren. Lost in Translation beschäftigt sich auf eine sehr berührende Weise mit dem Dilemma des Exils, so daß die Erlebnisse auch für eine nicht betroffene Lesergruppe, gut nachvollziehbar sind und selbst für diese Gruppe an an Relevanz dazu gewinnen.

Zusätzlich zu diesem Roman, werde ich versuchen, ein paar von meinen eigenen Erfahrungen
mit einzubringen. Ich lebe seit nunmehr sieben Jahren in Österreich und mußte mich immer wieder mit dem Thema des Fremdseins auseinander setzen. Da ich aus „nur“ Luxemburg komme, stellen meine Erlebnisse jedoch mit Sicherheit keine so einschneidenen Eingriffe in mein Leben dar, wie dies sehr wohl bei Eva Hoffman der Fall ist, und trotzdem habe ich mich in ihrem Buch wiedergefunden. Alfred Schütz weist in seiner Abhandlung darauf hin, daß er sich in seinem Text keinesfalls nur auf den Spezialfall des Immigranten bezieht, sondern auf jeden (...) der von der Gruppe, welcher er sich nähert,dauerhaft akzeptiert oder zumindest geduldet werden möchte (...) obwohl er darauf verweist, daß (...) in diesen Fällen die typische Krisis, welche der Immigrant durchmacht, leichter verläuft oder auch ganz ausbleibt.

Alfred Schütz‘ Text befaßt sich nicht mit sozialer Anpassung bzw. sozialer Assimilation, sondern mit dem Schritt , der dem voraus gehen muß, damit es überhaupt zu einer sozialen Anpassung kommen kann. Dieser Schritt ist die sogenannte Annäherung (approaching) an die fremde Gruppe. Alfred Schütz bespricht zwei unterschiedliche Sichtweisen,, mit denen man die fremde Gruppe betrachten kann. Man kann entweder Mitglied der Gruppe (in-group) sein , oder „uninteressierter wissenschaftliche Betrachter“ sprich Soziologe sein. Beides gewährt einem völlig verschiedene Einblicke in die „Zivilisationsmuster des Gruppenlebens“. Als uninteressiert wird der Soziologe beschrieben, weil er im Gegensatz zu dem in der Gruppe handelnden Menschen, absichtlich Abstand hält und von den in der Gruppe vorherrschenden Mustern keinen Gebrauch macht, um das gesamte Geschehen so objektiv und wissenschaftlich wie möglich beschreiben zu können. Das Beobachtete wird zum „Objekt seiner Gedanken“.
Eva Hoffman findet sich am Anfang ihres neuen Lebens auch in dieser Außenperspektive wieder.
Während einer Teenagerparty gerät sie, immer mehr ins Abseits. „Und während der Abend
voranschreitet, ziehe ich mich immer mehr zurück und beobachte das Geschehen, als wäre ich eine höchst distanzierte, unbeteiligte Anthropologin.“(S.144) Auch auf dem College erlebt sie ähnliche Situationen. „Ich bin wie eine Naturwissenschaftlerin, die sich in einer unerforschten Landschaft zurechtzufinden sucht und die Flora und Fauna um sich herum mit einer Mischung aus Neugier und Objektivität betrachtet.“(S.190)

Das Gruppenmitglied hingegen, nimmt aktiv teil an der Gruppe und an ihren Geschehnissen. Die Zivilisationsmuster beinhalten die gesamten Regeln, die für die Gruppe Gültigkeit haben dar. Dabei handelt es sich um Gesetze, Rituale, Sitten, Mode, Bräuche und Scripts. Das Mitglied bemächtigt sich dieser Muster um in ihnen seine Erfahrungen und Eindrücke auszuleben. Das Erlebte hat eindeutig einen realen Erlebnisscharakter, wobei das Gruppenmitglied alles um 
sich herum so organisiert, daß er zum Zentrum seiner Welt wird. Daraus ergibt sich, daß er am meisten an dem Interesse zeigt, was ihn unmittelbar umgibt, ihn also unmittlebar betrifft und gerade zu dem Moment am aktuellsten ist. Diese Selektion wird noch weiter geführt, indem das Mitglied sich aus seiner nächsten Umgebung nur jene Elemente herausnimmt, die ihm für kommende Handlungen von Nutzen sein könnten. Es ist für ihn nicht von Bedeutung, sich für 
alle Alternativen gleich stark zu interessieren und sich mit allen gleich vertaut zu machen. Es reicht aus, wenn er sich das nötige Wissen nach und nach aneignet, was darauf hinweist, daß (...) „ das Wissen des Menschen, der in der Welt seines täglichen Lebens handelt und denkt, nicht homogen ist; es ist erstens inkohärent, zweitens nur teilweise klar und drittens nicht frei von Widersprüchen.“

Das Wissen ist also unzusammenhängend. In der Relevanz der Interessen liegt keine Beständigkeit vor. Durch diese Schwankungen geraten immer neue Elemente in den Vordergrund des Interessensbereiches, wobei hier sowohl der Grad der Neugier als auch der Grad des Wissensdranges Änderungen unterworfen sind.Als nur teilweise klar beschreibt Alfred Schütz die alltägliche Handlungswelt des Menschen, weil er nur in gewissem Maße an der vollen Einsicht der Geschehnisse interessiert ist. Meistens genügt es dem Menschen, daß das was er gerade 
benötigt oder gebraucht funktioniert bzw. zur Verfügung steht . Die Frage nach dem Wieso, Weshalb, Warum, ist in diesem Kontext meist irrelevant für den Handelnden. Die Unbeständigkeit des Wissens zeigt sich daran, daß der Handelnde ganz unterschiedliche Positionen einnehmen kann, je nachdem in welcher Rolle er sich gerade befindet und auf welcher Relevanzebene sich die gegebenen Sachverhalte abspielen.

Für die Mitglieder scheint das in der Gruppe erworbene Wissenssystem ausreichend Klarheit, Beständigkeit und Zusammenhang zu haben, es wird „fraglos angenommen“, da es dem Gruppenmitglied alles bietet um „(...) die besten Resultate in jeder Situation mit einem Minimum von Anstrengung und bei Vermeidung unerwünschter Konsequenzen (..)“ zu erzielen. Das System hält für jede Gelegenheit die passenden Scripts zur Verfügung, die sowohl als Anweisungs- 
als auch als Auslegungsschema fungieren. „Daher ist es die Funktion der Kultur- und Zivilisationsmuster , ermüdende Untersuchungen auszuschließen, indem es fertige Gebrauchsanweisungen anbietet, um die schwere zu erreichende Wahrheit durch bequeme Wahrheiten zu ersetzen und um das Selbstverständliche mit dem fragwürdigen zu 
vertauschen“.

Diese vorgefertigten Rezepte bzw. dieses „Denken-wie-üblich“ funktionieren jedoch nur solange man einige Grundannahmen als gegeben annimmt. So muß man davon ausgehen, daß die Probleme die einem begegnen, immer von derselben Art sind, so daß die früheren Erfahrungen völlig ausreichend sind, um sie zu bewältigen. Ausserdem muß man sich sicher sein, die früher gemachten Erfahrungen in neuen Herausforderungen mit Erfolg anwenden zu können. Es 
muß daher genügen, sich ein allgemeines Bild über die umgebenden Ereignisse zu machen, um dann mit auftretenden Vorkommnissen umgehen, und die Situationen meistern zu können.

Sind diese Annahmen jedoch nicht gegeben, findet man sich genau in jener Situation wieder in der sich der Fremde befindet. All das was für den „in-group“ als selbstverständlich gilt, wird von dem Fremden zuerst einmal in Frage gestellt. Zwar kann auch er die Traditionen der Gruppe erkennen und schätzen, aber sie können nie einen Teil von ihm selber werden. (...) „Nur die Weisen in denen die Väter und Vorväter lebten, werden für jedermann Elemente des eigenen 
Lebensstils. (...) Der Fremde nähert sich deshalb der anderen Gruppe wie ein Neuankömmling im wahrsten Sinne des Wortes. Bestenfalls ist er willig und fähig, die Gegenwart und die Zukunft mit der Gruppe, welcher er sich nähert, in lebendiger und unmittelbarer Erfahrung zu teilen. Er bleibt jedoch unter allen Umständen von den Erfahrungen ihrer Vergangenheit ausgeschlossen. Vom Standpunkt der Gruppe aus, welcher er sich nähert, ist er ein Mensch ohne Geschichte“.
Dieses fehlende Puzzelteil, die nicht gemeinsam erlebte Vergangenheit, läßt auch Eva Hoffman immer wieder spüren, daß sie kein selbstverständliches Teil der neuen Gemeinschaft darstellt. „(...) Kennedy wird ermordet (...) Ich begreife die Tragik dessen, was geschehen ist nicht aber die volle Tragweite: meine amerikanische politische Erziehung ist noch nicht weit genug gediehen, als daß ich überblicken könnte, was verloren gegangen ist (...) So geht es mir mit vielen Dingen. Weil ich die Hintergründe nicht kenne, begreife ich oft das geschehen im Vordergrund nicht.“(S. 208) (...) Vielleicht liegt es daran, daß ich nicht recht weiß, woher meine Altersgenossen kommen, daß ich ihren Weg nicht kenne“(S.213)

Während ihrer Collegezeit fährt sie zusammen mit ihren amerikanischen Freunden zu einem Picknick, bei dem plötzlich einer anfängt ein Lied zu singen, bei dem alle gleich in den Refrain einfallen. Eva kann die Melodie nur mitsummen, da sie den Text nicht kennt. „Es gibt bestimmte Lücken in meiner amerikanischen Erziehung, die ich, so traurig das auch ist, niemals aufholen werde. (...) Bei diesen regressiven Ritualen ist mir nie ganz wohl zumute, weil ich nicht zu den gleichen Plätzen zurückkehren kann.“(S.234) 

Der Fremde ist in seiner Heimat auch Teil einer Gruppe, mit ihren eigenen Auslegungsmustern. Da diese einen Teil seiner Biographie und seines Weltbildes sind, versucht er natürlich die ihm vertrauten Rezepte auf die neue Gruppe anzuwenden. Er kommt jedoch schnell zu dem Schluß, daß seine Auslegungsschemata, sein „Denken-wie-üblich“, ungültig geworden sind. Diese schmerzliche Erfahrung muß nicht nur Eva machen, sondern auch ihre Mutter, für die alles noch viel fremder und unverständlicher wirkt, da sich die Muster ihrer Heimatgruppe, die Schemata der Krakauer Gesellschaft, in der sie lebte, schon viel tiefer in ihrem Verstehen und Handeln verankert haben. „Als sie (Evas Schwester Alinka) uns ihre bemalten Wimpern und ihre enthaarten Beine zum ersten Mal vorführt, weint meine Mutter. (...).In unseren Kreisen in Polen haben nur leichte Mädchen so etwas gemacht. (...) Sie (die Freunde von Alinka) sind so schlecht erzogen, wundert sich meine Mutter. Sie grüßen nicht, sie sagen nicht vielen Dank, wenn sie gegessen haben...Was für ein seltsames Land.“(S. 157)
 

Darüber hinaus, erweisen sich die Zivilisationsmuster der neuen Gruppe als unkompatibel mit den Vorstellungen die in der Heimatgruppe vorherrschten. In den Überlegungen und Annahmen der Heimatgruppe hatte die fremde Gruppe den Status eines Gegenstandes, weil das angefertigte Bild nicht zur Interaktion mit der fremden Gruppe dienen mußte. Durch den Sprung von der Außen - zur Innenperspektive, durch den Wunsch die Passivität gegen eine aktive Teilnahme 
an der neuen Gruppe einzutauschen, ändern sich die Relevanzen für den Fremden gewaltig. Ganz allmählich kriegen die neuen Muster einen anderen Stellenwert. Sie sind nicht mehr weiterhin nur leere Hüllen, sondern werden jetzt langsam ausgefüllt mit den Erlebnissen und Erfahrungen, die der Fremde in ihnen macht. Eva Hoffman füllt die anfangs so abstrakten Muster auch mit Erlebnissen aus, und nach über zwanzig Jahren Aufwachsen und Leben in Amerika, merkt 
sie, daß „dieses gottverdammte Land jetzt ihre Heimat geworden ist“. Sie „kennt alle Themen hier und alle Codes“. Sie fühlt,“ich passe hierher, und meine Umgebung passt zu mir“(S.186)

Ehe der Fremde jedoch diesen großen Schritt wagt, muß er zuvor den Kulturschock überwinden. Er findet sich in einer Welt wieder, für die er kein Orientierungsschema parat hat. Und das Schema von dem er in seiner Heimatgruppe ausgegangen ist, ist hier nicht anwendbar und auch in keinster weise mit einer „allgemeinen Transformationsformel“ umwandelbar. Die Gewissheit, sich selbst nicht mehr „als das Zentrum seiner sozialen Umwelt zu betachten“, zwingt den Fremden neuerdings zum Überdenken seiner Relevanzen. Dieses Umdenken, spielt sich vor allem auch auf der emotionalen Ebene ab. So stellt die Tatsache vom Auslöschen des eigenen, fraglos angenommenen Zentrums, laut Eva Hoffman, die schwierigste Phase in dem Dilemma dar. „Natürlich werde ich die Teenager in diesem Klassenzimmer in Vancouver nicht davon überzeugen können, daß Polen das Zentrum des Universums ist. (...) Ich bin diejenige die lernen 
muß, mit einer doppelten Sicht zu leben.(...) Die Bezugspunkte in meinem Kopf beginnen zu tanzen. Für mich ist das der deutlichste Ausdruck der Entwurzelung. Ich bin von meinem Mittelpunkt der Welt entfernt worden, und die Welt aus meinem Mittelpunkt gerückt worden“(S.145) „Wie weit ist dies alles von Krakau entfernt, von der Zeit, als Schatten, die 
sich über die Zimmerdecke bewegten, eine Welt darstellten, deren Mittelpunkt fraglos ich war.“(S. 233) Anhand ihrer Mutter, liefert Eva Hoffman ein sehr klares Beispiel für die Orientierungslosigkeit in einer fremden Welt. „In Polen hätte ich gewußt, wie ich dich erziehen soll, ich hätte gewußt was ich machen muß, sagt meine Mutter nachdenklich, hier jedoch hat sie ihre Selbstsicherheit, ihre Autorität verloren.“(S.159)

Für das Mitglied der in-group bilden Verstehen und Handeln eine natürliche Einheit. Die ihm begegnenden Situationen stellen für ihn kein Dilemma dar, er weiß was ihn erwartet und was von ihm erwartet wird. So handelt er mit einer Art Automatismus. Er braucht nicht jedes Mal zu überprüfen, ob und wie er sich verhalten soll, er weiß, er wird das tun was alle anderen der Gruppe auch tun würden, wären sie in seiner Situation. Er weiß sich in Sicherheit. Diese Handlungen haben keinen primären Stellenwert, sondern hier geht es um eine wesentlich geringere Relevanz, wo es ausreicht „sich auf Dinge zu verlassen“.

Der Fremde steht jedoch vor dem Problem, daß für ihn diese klare Einheit von Verstehen und Handeln nicht mehr gegeben ist. Genau das Fehlen dieser Einheit läßt Eva Hoffman ihre Aussenseiterposition spüren. „Ich versuche mitzukichern, wenn die Mädchen bedeutungsvolle Blicke ausztauschen – obwohl mein Kichern meist eine verräterische Sekunde zu spät kommt. (S. 128) (...) Er sieht so gut aus. Findest du nicht? fragt Evas neue Freundin Penny sie. Ich glaube 
schon, sage ich unsicher. Die Schönheitsmaßstäbe sind hier ganz anders, als die, an die ich gewöhnt bin (...)Dates zu haben ist mir ein unbekanntes Ritual.“(S. 162,163)

Alfred Schütz benutzt das Beispiel des Erlernens einer fremden Sprache, um zu erklären, welche Hürden der Fremde überwinden muß, um sich der fremden Muster so zu bemächtigen, daß er sie als eigene Auslegungsschemata anwenden kann. „Es ist der Unterschied zwischen dem passiven Verstehen einer Sprache und der aktiven Beherrschung als ein Mittel um die eigenen Handlungen und Gedanken zu erfassen“. Die Sprache ist auf einer sehr tiefen Ebene mit der Persönlichkeit eines Menschen verbunden. Sie spiegelt die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in sich wieder, und um sie „(...) frei als Ausdrucksschema zu beherrschen, muß man in ihr Liebesbriefe geschrieben haben; man muß in ihr beten und fluchen und die Dinge mit jeder nur möglichen Schattierung ausdrüken können, so wie es der Adressat und die Situation verlangen“. Es ist ein Unterschied, ob man etwas versteht oder ob man sich etwas aneignet. Man spricht 
natürlich auch im Fall von Fertigkeiten und Wissen von aneignen, jedoch ist das was man sich aneignet, immer nur das Wissen über eine Sache, aber nie die Sache selbst. Durch die Zunahme von Wissen schwindet nur die Unvertrautheit, nicht aber die Andersheit.
 

Der englische Titel von Eva Hoffmans Roman „Lost in translation – Life in a new language, spiegelt sehr deutlich wieder, was für eine Bedeutung die Sprache in der Immigrantensituation einnimmt. Erst wenn man sich in einer fremden Sprache verständigen soll, fällt einem auf, wie sehr man sich durch sie identifiziert und definiert. So ergeht es auch Eva Hoffman. Da sie ein Mensch ist, dem Sprache von vorne herein sehr viel bedeutet, fällt es ihr umso deutlicher auf, wie 
wenig von ihr übriggeblieben ist, in dieser ihr noch so unvertrauten Sprache. „Die Wörter der englischen Sprache haben noch nicht die Schichten meiner Psyche durchdrungen, wo ein intimes Gespräch seinen Ausgang nehmen könnte (...) Ich habe keine innere Sprache mehr (...) Die englischen Wörter passen zu gar nichts (S. 118) (...) Meine Art zu sprechen klingt, monoton, befangen, schwerfällig – eine akustisch wahrnehmbare Maskierung, die mir nicht steht und mir 
überhaupt nicht entspricht. Ich bin wütend auf die falsche Person, in die ich gesteckt bin.“(S.130)

Sehr berührend erzählt sie von der inneren Zerrissenheit die ein geschenktes Tagebuch auslöst. „Wenn ich wirklich etwas ganz allein für mich selbst schreibe, in welcher Sprache schreibe ich dann?(...) Wenn ich jetzt auf polnisch schreibe, wäre das ewta bißchen so, als zöge ich mich auf Latein zurück.(...) Polnisch wird zu einer toten Sprache, der Sprache der unübersetzbaren Vergangenheit. Aber nur für mich allein auf englisch schreiben? Das wäre wie Schularbeiten machen.(...) Wenn ich über die Gegenwart schreibe, muß ich in der Sprache der Gegenwart schreiben, auch wenn es nicht meine Sprache ist. Es scheint wenn ich Englisch schreibe (oder genauer gesagt, englisch denke), nicht das Wort „Ich“ benutzen kann „(S.132). Auch im Dialog mit Freunden, erfährt sie ihre Grenzen. „Wenn ich dann versuche, mit vergleichbarer Spontaneität zu antworten, suche ich verzweifelt nach dem angemessenen Ton, dem angemessenen Jargon (...) aber ich selbst höre das Künstliche.“(S.240) Später in ihrem Leben ist Eva Hoffman dann fähig 
diese letzte große Hürde in der Sprache zu nehmen. „Ich liebe dich, flüstere ich dem Mann neben mir mit der fast unhörbaren Stimme zu,(...) Lange Zeit war es schwer, diese innigsten Sätze auszusprechen, schwer, das Englische zu zwingen – die Sprache des Willens und der Abstraktion – so zu sprechen, daß es sich den Tonarten der Liebe anpaßte.“(S.268)

Dem Fremden fehlt auch die selbstverständliche Sicherheit der Situation in der er sich befindet. Er ist nicht in der glücklichen Lage, über eine „objektive Erfolgschance „ zu verfügen. Er muß ständig alles genau überprüfen und alle Operationen in ihre Details zerlegen, jeden Schritt auf die möglichen Konsequenzen hin prüfen. Daher laufen die Situationen, die der Fremde bewältigen muß für ihn auf einer sehr hohen Relevanzstufe ab. Er registriert alles genau, was die Mitglieder der Gruppe machen, kann aber anfangs nur schwer bis gar nicht herausfinden, welche Eigenschaften nur für ein bestimmtes Individuum gelten und welche wiederum einen allgemein gültigen Charakter besitzen. (...) die Kultur- und Zivilisationsmuster der Gruppe, welcher sich der Fremde nähert, sind für ihn kein Schutz sondern ein Feld der Abenteuer, keine Selbstverständlichkeit, sondern ein fragwürdiges Untersuchungsthema (...) eine problematische 
Situation (...) die hart zu meistern ist. Auch Eva Hoffman ist sich der Tatsache bewußt, daß vor ihr ein langer Weg liegt und sie ständig bemüht sein muß zu lernen, wenn sie einmal sagen möchte „Die Sprache reicht aus. Ich bin jetzt hier“ (S.307) „Ich werde jahrelang die diskreten Leiden der verschiedenen Klassen beobachten müssen, bis ich den ebenso diskreten Charme der Cartoons im New Yorker verstehe.“(S.130)

Nach Alfred Schütz lassen sich aus diesen Schwierigkeiten, die der Fremde hat, zwei Einstellungen erklären. Einerseits gibt die Objektivität des Fremden, die klarerweise aus der Tatsache entsteht, daß er sich der neuen Gruppe zuerst als „Soziologe“ nähert, und daher vielmehr das Bedürfnis entwickelt sich die neuen Kultur- und Zivilisationsmuster in ihren 
ganzen Ausprägungen anzueignen als die für die Mitglieder der Gruppe gilt. Laut Schütz hat diese Objektivität aber auch noch, oder vor allem, einen tieferen Sinn. Der Fremde hat am eigenen Leib erfahren, wie es ist, sein Orientierungsschema zu verlieren und auf sein „Denken–wie–üblich“ verzichten zu müssen. Er weiß um die leichte Zerbrechlichkeit des Selbstverständlichen, und ist deshalb oft feinfühliger, was Geschehnisse angeht, die die 
Kontinuität der Lebensweise ins Wanken bringen können.

Bei der anderen Einstellung handelt es sich eher um ein Vorurteil der Gruppe dem Fremden gegenüber. Vor allem findet dieses Vorurteil dann großen Nährboden, wenn sich der Fremde sehr schwer tut, beziehungsweise nicht in der Lage ist, sich diese neuen Kultur- und Zivilisationsmustern anzueignen. In diesem Fall (...) „bleibt der Fremde (...) ein kultureller 
Bastard an der Grenze von zwei verschiedenen Mustern des Gruppenlebens, der nicht weiß, wohin er gehört“.Auch Eva Hoffman sieht sich immer wieder in Gesprächen mit amerikanischen Freunden mit dem Gefühl der Voreingenommenheit konfrontiert. „(...) meine Freunde verdächtigen mich oft einer perversen Weigerung, an ihren Spielen teilzunehmen, einer unerklärlichen Lust, sie zu provozieren und ihren bequemen Konsens zu stören.“ (S. 224)
Meiner Meinung nach, ist dieses Problem jedoch nicht nur auf die neue Gruppe beschränkt, sondern findet auch seine Gültigkeit in dem Gegenübertreten von der Heimatgruppe und ihrem Mitglied, wenn dieses nach längerer Zeit zurück in die „Ursprungsgruppe“ kommt. Hier kann der Fremde sich mit dem Vorwurf des „Verrates“ gegenüber der Heimatgruppe konfrontiert sehen.
Da Eva Hoffman es aufgrund ihres Alters leichter mit der Assimilation hat, sieht sie sich innerhalb ihrer Familie mit kleinen, in ihren Augen, vorwurfsvollen Bemerkungen konfrontiert. „Meine Mutter sagt, ich würde „englisch“ werden. Das tut weh“S.(160) Hat er längere Zeit in einer fremden Gruppe gelebt, können ihm diese neu erlernten Orientierungsschemata nun plötzlich als selbstverständlicher vorkommen, als seiner ursprünglichen Muster. Dann ist 
der Fremde in seiner alten Heimat zu einem Fremden, einem Aussenseiter geworden. Diese Thematik wird in diesem Text von Alfred Schütz natürlich zurecht nicht behandelt, weil es ja hier explizit nur um die Auseinandersetzung mit dem Thema der Annäherung des Fremden an eine neue Gruppe geht.

Beim Lesen des Romans von Eva Hoffman habe ich viele ihrer Erlebnisse gut nachvollziehen können. Zwar verlief bei mir dieser Entwurzelungsprozess ( wenn es denn überhaupt einer war) nicht halb so dramatisch ab, und dennoch kenne ich dieses Gefühl zwischen den Stühlen zu sitzen sehr gut. Wie schon erwähnt, komme ich aus Luxemburg, wo die Muttersprache nicht Deutsch oder Französisch ist, sondern Luxemburgisch. Obwohl wir die deutsche Sprache schon 
sehr früh in der Schule erlernen , bleibt es dennoch eine Fremdsprache. Da wir in Luxemburg keine Universität haben, war ich sozusagen „gezwungen“ mich ins Ausland zu begeben. In 
Österreich habe ich mich dann in einer etwas seltsamen Situation wiedergefunden. Ich habe mich als doppelt fremd empfunden, weil ich, aufgrund meines fehlenden österreichischen Akzentes, als Ausländer angesehen wurde, aber nicht etwa als Luxemburgerin, sondern als Deutsche.

Das Gefühl, sich nicht mehr in dem selbstverständlichen Zentrum seiner Welt zu befinden, kann ich gut nachvollziehen. Zu meinem Erstaunen, sind immer noch sehr wenige Österreicher informiert, was „Europa“ eigentlich heißt und was sich alles hinter diesem Begriff versteckt. So wurde/werde ich immer wieder mit der Frage konfrontiert „Ach, wirklich aus Luxemburg; gibt es das denn überhaupt? Und wo liegt das denn eigentlich? Ist das nicht ein Teil von Deutschland?“ 
Eine Frage, die mich immer wieder erneut in die Defensive katapultiert, und mich oft sehr ärgert, weil ich das Gefühl vermittelt kriege, mich für das was ich bin, rechtfertigen zu müssen. Und genau wie Eva Hoffman, ist mir klar, daß ich den Leuten hier nie vermitteln kann, was Luxemburg wirklich bedeutet, daß es vielmehr als nur ein Punkt auf der Karte ist, sondern, daß es für mich, schlicht und einfach, mein Leben darstellt. 

Andere wichtige Parallelen konnte ich zu jenen Punkten ziehen, die sich mit der Sprache befaßen. So stand ich zum Beispiel, vor dem gleichen Dilemma wie Eva Hoffman: „Schreibe ich nun über meine privatesten und innersten Erlebnisse 
auf Deutsch oder auf Luxemburgisch“? Ich habe mich, im Gegensatz zu Eva Hoffman für, für meine Heimatsprache entschieden, weil ich mich natürlich auf einer völlig anderen Relevanzebene befinde, was meine neue Identitätsfindung und –definition angeht, als dies der Fall bei Eva Hoffman war. Ich befinde mich nicht im Exil, und durchlaufe daher nicht die genauen Phasen eines Immigranten auf dem Weg zur Assimilation in eine völlig neue Welt. Immer wenn ich den Versuch wagte, mein Tagebuch auf Deutsch zu schreiben, wurde mir klar, daß es dadurch zu einer Entfremdung mir selbst gegenüber kommt. Das Geschriebene stand zu keiner echten Relation zu meinen Erlebnissen und Empfindungen, es hörte sich immer unnatürlich und aufgesetzt an; ein „Spielen als ob“, wie in einem Film. Dieses Gefühl beschleicht mich auch dann und wann, wenn ich mit Freunden Gespräche über unsere Gefühle, Ängste und Sorgen 
führe. Ich bin mir sicher, daß wir uns auf zwei verschiedenen Bedeutungsebenen befinden. Für mich wird immer eine Distanz bestehen.

Gut verstehe ich auch die Problematik von Eva Hoffman, wenn sie sich im Dialog mit jemandem befindet und sie sich dessen Sprache anpassen möchte. Sie nimmt sich also ein Beispiel daran und versucht die gleichen Ausdrücke oder Dialekte zu verwenden. In ihren Ohren klingt es jedoch immer aufgesetzt und „unecht“ und sie beschleicht das Gefühl sich lächerlich zu machen.
Dennoch ist mir aufgefallen, daß ich die deutsche Sprache für den persönlichen Gebrauch viel öfter einsetze als früher, was daher kommt, daß die Welt in der ich jetzt lebe, sich besser in der Sprache verarbeiten läßt, in der ich sie erlebe. So werden schnelle Notizen oder Einkaufszettel mittlerweile ausschließlich Deutsch erfaßt. Es gibt jetzt einfach Begriffe in meinem Vokabular, die die Dinge um mich herum genau beschreiben, Begriffe die mir auf luxemburgisch nicht dasselbe bedeuten. Wenn ich von Zeit zur Zeit nach Hause fahre, bemerken Bekannte von mir des Öfteren, daß sich meine Sprache sehr verändert hat. Ich verwende viel mehr deutsche Ausdrücke als üblich, und in ihren Augen ist meine Ausdrucksweise irgendwie merkwürdig entfremdet. Das Problem mit dem Orientierungsschema fällt in meinem Fall eigentlich nicht so ins Gewicht, da es sich bei Luxemburg und Österreich nicht um sehr verschiedene Kulturen handelt. Natürlich passieren einem Dinge, die einem Wiener nicht passieren würden. Durch so kleine Fehltritte wie sich einen Kaffee bestellen anstatt einer Melange, einen kleinen/großen Braunen, einen Einspänner...oder im Billa eine Einkaufstüte anstatt eines Sackerls verlangen, (und was in 
aller Welt sind Paradeiser???), wird man an seine Fremdheit erinnert.
 

Zum Abschluß möchte ich eine sehr schöne Auseinandersetzung mit dem Thema „Fremdheit“ anhängen, die ich bei dem Komiker und Schriftsteller Karl Valentin (1882-1948) gefunden habe.

Karlstadt : Wir haben in der letzten Unterrichtsstunde über die Kleidung des Menschen gesprochen und zwar über das Hemd. Wer von euch kann mir nun einen Reim auf Hemd sagen?

Valentin : Auf Hemd reimt fremd!

Karlstadt : Gut – und wie heißt die Mehrzahl von fremd?

Valentin : Die Fremden.

Karlstadt : Jawohl, die Fremden. – Und aus was bestehen die Fremden?

Valentin : Aus „frem“ und „den“.

Karlstadt : Gut – und was ist ein Fremder?

Valentin : Fleisch, Gemüse, Obst, Mehlspeisen und so weiter.

Karlstadt : Nein, nein, nicht was er ißt, will ich wissen, sondern wie er ist.

Valentin : Ja, ein Fremder ist nicht immer ein Fremder.

Karlstadt : Wieso?

Valentin : Fremd ist der Fremde nur in der Fremde.

Karlstadt : Das ist nicht unrichtig. – Und warum fühlt sich ein Fremder nur in der Fremde fremd?

Valentin : Weil jeder Fremde, der sich fremd fühlt, ein Fremder ist und zwar so lange bis er sich nicht mehr fremd fühlt, dann ist er kein Fremder mehr.

Karlstadt : Sehr richtig! – Wenn aber ein Fremder schon lange in der Fremde ist, bleibt er dann immer ein Fremder?

Valentin : Nein. Das ist nur so lange ein Fremder, bis er alles kennt und gesehen hat, denn dann ist ihm nichts mehr fremd.

Karlstadt : Es kann aber auch einem Einheimischen etwas fremd sein!

Valentin : Gewiß, manchem Münchner zum Beispiel ist das Hofbräuhaus nicht fremd, während ihm in der gleichen Stadt das Deutsche Museum, die Glypothek, die Pinkothek und so weiter fremd sind.

Karlstadt : Damit wollen sie also sagen, daß der Einheimische in mancher Hinsicht in seiner eigenen Vaterstadt zugleich noch ein Fremder sein kann. – Was sind aber Fremde unter Fremden?

Valentin : Fremde unter Fremden sind: wenn Fremde über eine Brücke fahren und unter der Brücke fährt ein Eisenbahnzug mit Fremden durch, so sind die durchfahrenden Fremden Fremde unter Fremden, was Sie, Herr Lehrer, vielleicht so schnell gar nicht begreifen werden.

Karlstadt : Oho! – Und was sind Einheimische?

Valentin : Dem Einheimischen sind eigentlich die fremdesten Fremden nicht fremd. Der Einheimische kennt zwar den Fremden nicht, kennt aber am ersten Blick, daß es sich um einen Fremden handelt.

Karlstadt : Wenn aber ein Fremder von Fremden eine Auskunft will?

Valentin : Sehr einfach: Frägt ein Fremder in einer fremden Stadt einen Fremden um irgend etwas, was ihm fremd ist, so sagt der Fremde zu dem Fremden, das ist mir leider fremd, ich bin hier nämlich selbst fremd.

Karlstadt : Das Gegenteil von fremd wäre also – unfremd?

Valentin : Wenn ein Fremder einen Bekannten hat, so kann ihm der Bekannte zuerst fremd gewesen sein, aber durch das gegenseitige Bekanntwerden sind sich die beiden nicht mehr fremd. Wenn aber die zwei mitsammen in eine fremde Stadt reisen, so sind diese beiden Bekannten jetzt in der fremden Stadt wieder Fremde geworden. Die beiden sind also – das ist zwar paradox – fremde Bekannte zueinander geworden.
 
 

copyright Simone Sassenrath

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